Isotretinoin und entzündliche Darmerkrankungen
Immer wieder gibt es Einzelfallberichte von Akne-Patienten, die nach der Einnahme von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Isotretinoin eine entzündliche Darmerkrankung wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn entwickelt haben. Experten vermuten deshalb schon länger einen Zusammenhang. Verschiedene klinische Studien zu diesem Thema liefern jedoch widersprüchliche Ergebnisse. In diesem Artikel geht es um die neueste Fallkontrollstudie französischer Forscher, die im The American Journal of Gastroenterology (AJG) April 2014 veröffentlicht wurde.
Isotretinoin wirkt – mit Nebenwirkungen
Isotretinoin (13-cis-Retinsäure) ist chemisch mit Vitamin A (Retinol) verwandt und als Wirkstoff in Arzneimitteln zur topischen als auch systemischen Anwendung bei Akne im Handel erhältlich. Letztere Einnahme in Kapselform gilt als derzeit wohl effektivste sowie „nachhaltigste“ Behandlung schwerer Akne.
Die Verordnungszahlen für „Iso“ steigen, auch aufgrund neuer Verschreibungsformen und Therapieschemata (low-/micro-dose): Laut Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) wurden 2010 im Durchschnitt sechs Millionen Dosen pro Tag verordnet (Defined Daily Dose, angenommene Mittlere Tagesdosis). Das waren 7,5 Prozent mehr als im Vorjahr.
Allerdings besitzt Isotretinoin viele Nebenwirkungen. So kann es zu sehr seltenen, aber schweren Hautreaktionen kommen. Außerdem vermuten Experten einen Zusammenhang zwischen Isotretinoin und einem erhöhten Selbstmordrisiko. Darüber hinaus ist der Wirkstoff fruchtschädigend (teratogen): Er darf nicht während der Schwangerschaft eingenommen werden.
Laut Fachinformation betreffen Nebenwirkungen den Gastrointestinaltrakt (Magen-Darm-Trakt) sehr selten, das heißt sie treten bei weniger als 1 von 10.000 Behandelten auf. Möglich sind Übelkeit, Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis), des Dick- oder Grimmdarmes (Kolitis) und des Dünndarms (Ileitis) oder entzündliche Darmerkrankungen, aber auch Magen-Darm-Blutungen oder blutige Durchfälle.
Über Morbus Crohn und Colitis ulcerosa
Sowohl Morbus Crohn als auch Colitis ulcerosa gehören zu den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED).
Morbus Crohn tritt vor allem im hinteren Abschnitt des Dünndarms, sowie im Dickdarm auf. Zu den Symptomen gehören Müdigkeit, Gewichtsverlust, Schmerzen im rechten Unterbauch und Durchfälle. Es wird vermutet, dass Morbus Crohn zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen gehört, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper attackiert. Letztlich sind die Ursachen der Erkrankung nicht vollständig geklärt.
Die Colitis ulcerosa verläuft schubweise. Betroffen sind Mastdarm und Dickdarm (Colon). Wie bei Morbus Crohn ist die Ursache unklar. Eine Colitis ulcerosa macht sich hauptsächlich durch schleimig-blutige Durchfälle bemerkbar, die nicht von der Ernährung beeinflusst werden.
Ergebnisse der Fallkontrollstudien widersprechen sich
Neben der aktuellen französischen Studie zum Zusammenhang zwischen der Einnahme von Isotretinoin und dem Auftreten von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, gibt es zwei weitere große Fallkontrollstudien. Die erste Studie von Bernstein et al. aus dem Jahr 2009 fand in Patientendaten aus der kanadischen Provinz Manitoba keinen Zusammenhang. Die Studie von Crockett et al. aus dem Jahr 2010 wies anhand von Krankendaten von 55 Mio. US-Amerikanern ein erhöhtes Risiko für Colitis ulcerosa, aber nicht für Morbus Crohn nach.
Aufgrund der Einzelfallberichte und der uneinheitlichen Daten dieser beiden Fallkontrollstudien, wies die AkdÄ in einer Mitteilung im Deutschen Ärzteblatt Mai 2012 (Jg. 109, Heft 20) auf ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Colitis ulcerosa durch orale Behandlung mit Isotretinoin hin. Patienten und deren Angehörige sollten vor der Behandlung darüber informiert werden und über die Symptome der Erkrankungen Bescheid wissen, auch wenn das tatsächliche Risiko gering ist.
Französische Studie findet keinen Zusammenhang
Zuletzt (Veröffentlichung April 2014) haben französische Forscher im Rahmen einer weiteren Fallkontrollstudie den Zusammenhang zwischen der oralen Einnahme von Isotretinoin und entzündlichen Darmerkrankungen untersucht. Die Forscher griffen für ihre Studie auf Daten des französischen Gesundheitssystems von über 50 Millionen Menschen (etwa 76 % der dortigen Bevölkerung) von Anfang 2008 bis Ende 2010 zurück. Die Daten enthielten Informationen zu Medikation und medizinischen Maßnahmen der Versicherten.
Die Forscher analysierten die Daten von 7.593 Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen und 30.372 Kontrollpatienten. Davon hatten 26 (0,3 %) bzw. 140 (0,4 %) Isotretinoin eingenommen oder nahmen es noch ein. Bei ihren statistischen Auswertungen zogen die Wissenschaftler um Antoine Racine auch den Zeitraum der Isotretinoineinnahme, die Dosis und die Einnahme anderer Akne-Medikamente in Betracht. Außerdem wurden Alter, Geschlecht und Jahr des Studieneinschlusses beachtet.
Der Anteil der Akne-Patienten war in der Kontrollgruppe genauso groß wie bei den Patienten mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Insgesamt gab es 15 Patienten mit Colitis ulcerosa und 11 Patienten mit Morbus Crohn, die Isotretinoin einnahmen oder eingenommen hatten. Die Forscher fanden keinen Zusammenhang zwischen der Isotretinoineinnahme und einem höheren Risiko an Colitis ulcerosa zu erkranken. Für Morbus Crohn war das Risiko sogar geringer.
Die Ergebnisse der amerikanischen Studie von Crockett et al. weisen in eine ähnliche Richtung. Hier ergaben die Analysen der Forscher zwar ein erhöhtes Risiko (>x4) für Colitis ulcerosa, nicht jedoch für Morbus Crohn. Im Gegensatz zu den Franzosen stellten die Amerikaner jedoch einen deutlichen Zusammenhang zwischen Isotretinoin-Dosis und Erkrankungsrisiko fest. Je höher die Dosis, desto höher das Risiko. Das gleiche gilt für die Dauer der Therapie. Laut der aktuellen französischen Studie hatten weder Dosis (pro Tag und Gesamt) noch Therapiedauer einen Einfluss – einen Zusammenhang zwischen Isotretinoin und Colitis ulcerosa konnten die Forscher trotzdem nicht nachweisen.
Auch die kanadische Studie von Bernstein et al. findet keinen Zusammenhang. Allerdings kritisieren die Autoren der amerikanischen Studie, dass weniger Daten ausgewertet wurden und dass die Forscher auch Fälle mit eingeschlossen hätten, bei denen die Isotretinoin-Einnahme bis zu sechs Jahre zurücklag. Bei einem so langen Zeitraum sei es unwahrscheinlich, dass eine Erkrankung durch die Einnahme eines Medikaments verursacht wird. Die Autoren gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen Isotretinoin und Colitis ulcerosa deswegen in der kanadischen Studie unterschätzt wurde.
In der Studie aus Frankreich (2014) wurden hingegen – wie bei der amerikanischen Studie – nur Fälle mit eingeschlossen, bei denen die letzte Isotretinoin-Verschreibung nicht länger als ein Jahr zurücklag.
Verdacht bleibt bestehen
Die Autoren der aktuellen Studie sehen ihre eigenen Ergebnisse als eine „Rückversicherung“, dass bei der oralen Einnahme von Isotretinoin kein erhöhtes Risiko für Morbus Crohn bzw. Colitis ulcerosa besteht. Trotzdem: Die Ergebnisse der amerikanischen Studie finden einen Zusammenhang, so dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist.
Allerdings weisen alle Studienautoren darauf hin, dass das Risiko des Einzelnen eine Colitis ulcerosa als Folge einer systemischen Isotretinointherapie zu bekommen sehr gering ist. Das sagt auch die AkdÄ in ihrer Mitteilung: Die sogenannte „Number needed to harm“ (NNH, Anzahl bei der es zu einem Schaden kommt) liegt bei einer Inzidenz von zehn Colitis-ulcerosa-Fällen pro 100.000 Patientenjahren bei 2.977. Das bedeutet, dass unter 2.977 Patienten, die Isotretinoin oral einnehmen, mit einem zusätzlichen Fall einer Colitis ulcerosa gerechnet werden müsste.
Die AkdÄ zieht auch die Möglichkeit in Betracht, dass Antibiotika als Störfaktor wirken. Das heißt, wenn Akne-Patienten Antibiotika einnehmen, könnten diese die Ursache entzündlicher Darmerkrankungen sein. Diese Tatsache kann vorgaukeln, dass das ebenfalls eingenommene Isotretinoin für eine entzündliche Darmerkrankung verantwortlich ist. Ein Zusammenhang zwischen Antibiotika und entzündlichen Darmerkrankungen konnte aber noch nicht sicher belegt werden.
Die aktuelle Studie aus Frankreich widmet sich auch dieser Frage. Bei der entsprechenden Analyse der Daten konnten die Forscher keinen Zusammenhang nachweisen, die kanadische Studie hingegen schon. Damit bleibt auch diese Frage letztlich ungeklärt.
Fazit: Isotretinoin und entzündliche Darmerkrankungen
Seit Jahren vermuten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen der oralen Einnahme von Isotretinoin und einem erhöhten Risiko für Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Die im April 2014 publizierte französische Kontrollstudie kommt zu dem Ergebnis, dass es diesen nicht gibt. Anscheinend verringert die Einnahme von Isotretinoin sogar das Risiko an Morbus Crohn zu erkranken.
Allerdings kommt eine ältere amerikanische Studie zu dem Schluss, dass die Einnahme von Isotretinoin die Wahrscheinlichkeit einer Colitis ulcerosa erhöht, wenn auch nicht das Risiko für Morbus Crohn.
Selbst wenn die absoluten Fallzahlen gering sind, sollten sich Akne-Patienten, die Isotretinoin in Kapselform einnehmen, der Tatsache bewusst sein, dass sie möglicherweise ein erhöhtes Risiko für Colitis ulcerosa haben. In den Fachinformationen werden bei den Nebenwirkungen sehr seltene gastrointestinale Beschwerden genannt: Kolitis, Ileitis, trockener Rachen, gastrointestinale Blutungen, blutiger Durchfall und entzündliche Darmerkrankung, Übelkeit sowie Pankreatitis. Diese Nebenwirkungen betreffen aber weniger als einen von 10.000 Behandelten.
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